22.7.18

66

66 – doch ungebückt

Der Tag meiner Geburt rückt immer weiter in die Ferne
Und ist doch in mir eingeschrieben wie die Ringe alter Bäume
Wie in die Nacht, unzählbar, sicht- und unsichtbare Sterne
Und in den dunklen Grund der Seele seltsam wundersame Träume

Ich reise nun sechsundsechzig Jahre auf der grausam schönen Erde
Auf einem Schiff der Hoffnung  irgendwie nach irgendwo, wo ich nie war
Und spüre immer noch Jubel und Staunen, ja, ich bin da und werde
Die Zeit verbringen als ein neugieriger Weltenwanderer nach Wunderbar

Ich schreibe mein Leben selbst, das tut kein anderer für mich, das ist mein Stolz
Ich schreibe glücklich und besessen, Inhalt und Ausgang weiss ich nicht
Mein Leben ist nur eine Welle auf dem Meer, seht hin, da rollts und rollts
Ihr Lieben und am Ende lasse ich euch von mir ein unvollendetes Gedicht

Das sagt euch, danke, dass ihr mich mit so viel Liebe stets begleitet habt
Ich bitte umVerzeihung für jeden Schmerz den ich euch zugefügt
Dass ihr mit mir die Sehnsucht nach der Freiheit und die Freude nicht begrabt
Ich habe euch geliebt und weiss doch auch, das hat uns nie so ganz genügt

Das ganze Glück, dass alle Menschen frei und glücklich, friedlich, sinnvoll leben
Das wollte ich egoistisch immer und wusste doch das ist nicht zu erreichen
Leid, Armut, Traurigkeit, Gewalt und Krieg und Tod, die konnte ich nicht beheben
Die Rechnung ist zu groß für mich, ich kann sie nicht begleichen

Momente des Glücks, im Lieben und im Schreiben, gelungener Arbeit, der Veränderung
Und soviel Schönheit, Wahrheit, Kinder, wilde Früchte am Wegrand frisch gepflückt…
Ich sage euch wir gehen und wir altern und vergehen und wir bleiben ewig jung
Nur in der Dämmerung Erinnerung, sind wir ganz und heil, glücklich und frei, gebückt
Doch ungebückt.




















20. Juli 2018

Wir werden heimgekommen sein

So, jetzt bin ich sechsundsechzig und Mutter hat noch nicht angerufen
Wie sie es sonst immer tat, bemüht die erste Gratulantin von allen zu sein
Jetzt warte ich nimmermehr, mir reichts, ich bin müde und gehe schlafen
Ich werde mich ins Bett legen und die Augen schließen, ich bin nicht allein

Ich werde träumen mein Leben, wie ich es immer tue, auch wenn ich wach bin
Ich werde alle meine FreundInnen treffen, die nicht mehr am Leben sind
Ich werde ihnen meine kleinen Geheimnisse ins Ohr flüstern und sie mir ihre
Wir werden unerhörte Lieder schreiben über die unhaltbaren Zustände auf der Welt

Ich weiß nicht ob ich von dort zurückkommen wollen werde, ich denke schon
Denn hier, am nächsten Morgen, erwarten mich meine Kinder und die Vögel und
Wilde Blumen an den Ufern der immer noch fließenden Flüsse, in die ich steige
Um auf dem Rücken liegend mein Gesicht von der Sonne bescheinen zu lassen

Meine Kinder sind verstreut wie die Pusteblumenregenschirmsamen im Wind
Ich trage meine Sorge um sie wie ein Joch oder einen Rucksack auf den Schultern
Im Traum tanze ich inmitten von blökenden Schafen und zähle die Störche im Himmel
Es ist schon hoch im Juli und die Erde wälzt sich wild und unruhig dem Ungewissen zu

Ich wärme mich immer noch am Fleisch der anderen und atme die stickige Luft ein
Weiß, die Städte, die riesigen Krebsgeschwüre, der Hunger, das Sterben müssen nicht sein
Auch nicht die aufgeblähten, schaukelnden Leiber der Puppen, die einmal Menschen waren
Die nun die Politik unserer kalten Verbrecher zum Tanz an die Strände des Mittelmeeres spült

Wir haben die Kolonien eingepflanzt in unseren Genen, die Sklavengene empören sich
Die Untertanengene lassen uns die Verbrechen, die unzähligen, gewiss nicht billigen
Doch auch nicht tatkräftig verhindern, weil ein kleines Ameisenleben nicht ausreicht, um
Die blut- und leichengetränkte Erde zu pflügen, neue, freie, reine Früchte erblühen zu lassen.

Aber der Tag wird kommen, die Tage, an denen wir, längst Entschwundene, mitfeiern werden
Den Geburtstag all unserer Geburtstage, in einem unvergleichlichen Hier und Jetzt der Freude
In Geschwisterlichkeit werden wir über die Welt reisen, die Berge und Meere und singen
Aus einer Kehle, in tausend Zungen, das Hohelied der Heimgekommenen, überall.

So, jetzt bin ich sechsundsechzig und Mutter hat noch nicht angerufen
Wie sie es sonst immer tat, bemüht die erste Gratulantin von allen zu sein
Jetzt warte ich nimmermehr, mir reichts, ich bin müde und gehe schlafen
Ich werde mich ins Bett legen und die Augen schließen und nicht alleine sein.

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