3.7.06

Blop so!

Willi Stelzhammer / Venedig in Simmering
Gedichte und Lieder / edition sonnberg


Buchpräsentation und Lesung als poetischer Krimi

Was macht „Venedig in Simmering“ in Döbling?

Auf den ersten Blick könnte man denken man/frau hätte sich in der Adresse geirrt. Das kleine Antiquariat „erlesenes“ von Joy Antoni, mit seinem schwarz lackierten Portal und seinem edlen Interieur, voll gut sortierter literarischer Leckerbissen, in der Weinberggasse 17, nicht weit vom Döblinger Sonnbergmarkt und Thomas Bernhard`s Obkirchergassen-Wien-absteige, könnte sehr gut auch in einer Veneziani-schen „Calle“ liegen, so südländisch hat es sich heute herausgeputzt. Kleine Fähnchen in Grün, Weiss, Rot (endiamo ragazzi), die sich bei näherer Betrachtung nicht als bunt behängte Wäscheleinen, sondern als vervielfältigte Abbilder des Buchcovers der Neuerscheinung der edition sonnberg entpuppen, umrahmen flatternd den für den festlichen Anlass improvisierten Gastgarten vor dem Geschäft und lassen eher an die Neueröffnung einer feurigen Pizzeria oder eines weiteren Eissalons denken, als an den Ort einer „vergeistigten“, dichterischen Heimsuchung. Erst der zweite Blick macht klar worum es wirklich geht. In der Antiquariatsauslage, unbescheiden hinter den riesigen Lettern eines Bachmanngedichts hervorlugend, blinkt, feierlich drapiert, das Objekt der heutigen Begierde als optischer Mittelpunkt: der neue Gedichtband von Willi Stelzhammer. Venedig in Simmering, Gedichte und Lieder, herausgegeben von der kleinen Döblinger edition sonnberg. Heute wird er hier vorgestellt und er blinkt wahrlich unverschämt, denn er ist mit einem kleinen Leuchtfußball geschmückt, - augenzwinkernde Reminiszenz an die Gottheit Fußball-WM, poetische Versöhnungsgeste an die unvermeidliche, weil unverwüstliche Populärkultur.

Im Antiquariat „erlesenes“

Das Antiquariat, bereits überfüllt und überhitzt, wird gleich aus allen Nähten platzen. Durch die Reihen der Klappsessel werden von flinken Händen Tabletts mit Prosecco und anderen probaten „Kühlmitteln“ balanciert, aus der Tonanlage temperiert die markante Stimme Fabrizio De Andrè`s das Raumklima. Einzig das Meer fehlt. Die Gondel ist schon da, allerdings als kleine Kitschminiatur auf dem gedrechselten Lesetischchen in der Ecke, wo sie mit ihren vielfarbigen Lichtlein, ungeduldig wie das Publikum, auf`s Ablegen zu warten scheint. Das Publikum, etwa siebzig Personen, viel zu zahlreich für die kleine Buchhandlung, ist geteilt in „die Drinnen“, die redlich schwitzen und „die Draußen“, die den lauen Sommerabend genießen und es gar nicht eilig haben. Auch hier regiert die bunte Mischung – Poesie kennt keine Grenzen - der Herkunft und Zugehörigkeit. Zu hören sind sie gekommen und auch selber zu plaudern – Familie, FreundInnen, Nachbarn, Kinder, die Lehrerin, Jugendliche, der Bezirksvorsteher, die bekannte Geschäftsfrau, die Pensionistin, der Uhudla-Verkäufer und Redakteur … Lesen und Poesie verbindet.

Pünktlich, mit einer halben Stunde Verspätung ,
endlich die „Erlesung“


Der Dichter selbst, nein - er ist kein lockiger Pizzalieferant und er bringt keine Schachteln mit „Pizza al fungi“, sondern warme, frischgebackene Gedichtbände, die später auch weggehen sollten wie die sprichwörtlichen „warmen Semmeln“ - ist eher untypisch. Weder blass noch introvertiert und mit erwähnter halbstündiger Verspätung beginnt er den schweißtreibenden Abend mit einem Gedicht, das seiner erst vor kurzem verstorbenen Mutter gewidmet ist, die, wie er sagt, zeitlebens sein bestes, dank-barstes, unermüdlichstes Publikum gewesen war und die, er sagt es und man glaubt und fühlt es auch irgendwie, auch diesmal zugegen ist. Die Mutter ist gegangen / Und hat mich lassen stehen / Ich streichelte ihre Wangen / Versprach ihr ein Wiedersehen (…) Dort wo keine Schmerzen wir haben / Alle Menschen sind freundlich und gleich / Alle Zwietracht und Streit sind begraben / Alle sind dort von Liebe so reich (…) Sahst aus Deinem Mantel von Leinen / Skeptischen Auges mich trotzig an / Deinen ewig träumenden Kleinen / Der die Wahrheit nicht fassen kann (…) Ich streichelte sanft ihre Wangen / Und schloss das Auge ihr zu / So schnell ist die Zeit vergangen / Dann bin ich nach Draußen gegangen / In Unruh und ließ sie in Ruh.

Diesem berührenden Beginn war eine kurze Vorstellung der „edition sonnberg“ und ihrer Pläne durch den Verlagsleiter Dr. Rainer Clauss vorgelagert gewesen, mit dem Hinweis, dass dieses Buch vom Bundeskanzleramt und von Wien Kultur gefördert wird. Daran hatte sich die Begrüßung der Gäste und die Danksagung des Autors an alle GeburtshelferInnen des Büchleins und MitgestalterInnen dieses Abends geschlossen:
„Ohne Joy Antoni und ihrem Antiquariat „erlesenes“ hätte es das Buch in dieser Form sicher nicht gegeben. Denn dieser Ort, so jung er ist, ist bereits zum „Carrefour“ der Ideen und Personen geworden und hier kam auch der Kontakt zu Herrn Dr. Clauss und seiner edition mit dem hübschen Namen sonnberg zustande, die gleich visavis von hier, sozusagen über die Straße , gelegen ist."

Pendel zwischen Poesie und Politik

Eine heiße, gute Stunde dauert dann die Lesung von Willi Stelzhammer, die von zwei mit ihm befreundeten Musikern, Isaak Loberan von der jiddischen Gruppe Scholem Aleijchem und Juan Neira, chilenischstämmiger Obmann des Stadtteilzentrum Simmering, „Centro 11“, das Willi Stelzhammer vor nunmehr 12 Jahren gegründet hatte, begleitet wurde. Stelzhammer folgte, in geraffter Form, dem Aufbau seines Gedicht-bandes, der eine Art poetisch-politischer Chronik seiner letzten zwanzig Jahre widerspiegelt und lud mit seltenem Charisma und melodischer Stimme, die den Sänger verriet, zu einer intimen, abwechslungsreichen Reise in innerste Gefühlswelten ( existenzielle Brüche und Widersprüche inklusive), evozierte Landschaften, Leiden-schaften, Jahreszeiten, Stimmungen und Verstimmungen, Zustände der Liebe und Trauer, des Verlustes, des Mitgefühls und der geteilten Freude. Kleine persönliche Berührungspunkte des Autors mit Ereignissen der jüngeren Zeitgeschichte kamen zum Vorschein, wie etwa in dem Gedicht Lichtermeer aus dem Jahre 1992, als er erfahren musste, dass zum erstenmal in Österreich das Mittel eines demokratischen Volks-begehrens gegen Menschen, als sogenanntes „Ausländervolksbegehren“ missbraucht werden sollte. Damals schrieb er: Hat das Meer Angst vorm Regen / Fühlt der Tropfen sich allein / Wenn die Wellen sich bewegen / Wirds ein Sturm im Glase sein (…) Gibt es Grenzen gegen Fluten / Gibt’s Gesetze gegen Recht / Ist das Inland Gut der Guten / Und das Ausland Knecht und schlecht (…) Wer den Wind sät wird Sturm ernten / sah schon Lämmer die zum Schlachten gingen / Und sich wehren lernten / Und den Wolf zur Strecke brachten (…)
Einen Monat später, im Jänner 1993, er war unterdessen Mitbegründer der Initiative SOS Mitmensch und einer der Hauptkoordinatoren des Lichtermeeres geworden, standen 259.000 Menschen gegen Ausländerfeindlichkeit am Heldenplatz.


Aber auch Begebenheiten des Alltags werden immer wieder gestreift, etwa im Kindergartenrap, wenn seine Tochter Elena sich nicht und nicht anziehen lassen will und er sie am liebsten an die Decke kleben würde. (…) Ich schleppe sie und ihren Sack / Bis in den Kindergarten / Natürlich kommen wir zu spät / Und alle Tanten warten (…) Nach außen hin bin ich ganz ruhig / Doch innerlich, da kocht er / Und jeder irrt sich, der da glaubt / Der Mann liebt seine Tochter

Zum Greifen dichte, tiefe Betroffenheit macht sich breit nach dem Gedicht „Täter-profil: Es war ein Einzeltäter“, diesem gewaltigen und schockierend eindringlichen Briefbombenrap gegen die kollektive Verdrängung der gesellschaftlichen Wurzeln von Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit in unserem Land, gegen die allzubereite geschichtliche Amnesie der Österreicher, ihren Hang, auch als Täter und Mitläufer in die Opferrolle zu schlüpfen und den allzufreudig und erleichtert angenommenen Freispruch von aller Mitschuld und moralischen Mitverantwortung zu zelebrieren, da der Briefbombenattentäter und Rohrbombenmörder der Oberwarter Roma - trotz nachgewiesenem nationalsozialistischen Umfelds und zahlreicher unüberprüfter Hinweise und Indizien auf Mittäterschaft – ja letztlich doch nur ein „verrückter Einzeltäter“ gewesen sei. Schau in den Spiegel, was tust du dagegen / Wenn sich im Wirtshaus Fremdenfeinde regen / Wenn in der Kronenzeitung Tschuschenenwitze stehen / Skinheads in der U-Bahn hast du nie gesehen / Auch Schubhäftlinge nicht in ihren stinkenden Zellen / Bevor Fremdenpolizisten sie den Henkern überstellen / Du bist unschuldig, warst nirgendwo dabei / Gar nichts interessiert Dich, bist in keiner Partei / Du hast ein reines Gewissen / Hast nur immer mitgebellt / nie selber gebissen / Dich nie dagegen gestellt / Du hast niemandem den Finger weggerissen / Du hast niemandem den Finger weggerissen (…)
Es war ein Einzeltäter, es war ein Einzeltäter / Ein Heinzeltäter, wie die Heinzelmännchen werken / Wenn die braven Schafe schlafen / „Ach wie gut, dass Schlögl weiß, dass ich Einzeltäter heiß“ / Es war ein unpolitischer Einzeltäter.


Immer wieder brandet Applaus auf auch für die stilleren Themen und Momente, die „aus dem Herzen der kleinen Dinge“ kommen, das Einfache, das laut Brecht "so schwer zu machen ist" und das der Autor ebenso wie Franz Schuh vielleicht für das Komplexeste und Unbegreiflichste in und an unserem Leben überhaupt, hält – die Banalität und das tägliche Wunder des Lebens in allen seinen Manifestationen. Das Zentrum liegt im Nebenbei könnte das Motto dieser Gedichte auch heissen, wenn ein zerbrechlicher Alter hoch auf den Sprossen einer Leiter steht, um in akrobatischer Verrenkung einen alten Ast abzusägen, der ihn stört. (…) der Baum wird stehen /lange nach ihm und Früchte tragen / die er heut ersehnt, oder wenn nach einem langen Winter eine Amsel ihr Bad im Frühlingsregen nimmt, um nur zwei Beispiele zu nennen. Auch Alter und Tod werden angesprochen, ausgesprochen, nicht verdrängt und schamvoll verhängt, auch nicht exorziert, einfach zugelassen, weil es sie gibt, als Teil unseres Lebens, fernab der Hochglanzmagazine, Moden und Trends. Eros und Thanatos im Alters-heim: (…) Noch lebt ihr, pulst das Blut durch euren Leib, dürr, ausgemergelt / aber ähnlich noch dem Menschenbild / Mysterium Leben – was ist schön? – der Seele Schatten und der Liebe Furchen / Wo ist vergangener Freud und Lust Verbleib / zerklüfteten, schwarzen Olivenwaldes Weib / vergangener Schlachten Mann mit brüchigem Schild / umzingelt schon von Drachen und von Lurchen?
Gleich darauf, im nächsten Gedicht stehen ihnen ein türkisches Mädel und ein tschechischer Bub gegenüber, umschlungen in der U-Bahn (…) schmal, schwarz mit / Kopftuch die eine / blond, groß, mit Muskeln / der andere (…) und spielen das ewige Spiel (…) die Jahreszeit, das Jahr / die Politik, die Herkunft / sind unbedeutend im Funkenschlag / der ersten Gefühle
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Die Liebe fragt nicht was sie darf

Vor allem kommt bei Stelzhammer die Liebe nicht zu kurz. Sie ist, wie er selbst sagt, sein wichtigster Antrieb für alles (…) Nur in der Liebe ist die Freiheit auch / Und ohne Liebe ist da nur der Tod / Die Kälte und ein leeres Rettungsboot / Kein Feuer mehr und nicht einmal mehr Rauch. und die Liebe hat für ihn viele Gesichter und Formen und Zeiten (…) Wenn die Liebe alt ist / und zärtlich und leuchtet / drehen sich die Jungen eifersüchtig nach ihr um (…) und (…) Die Liebe / fragt nicht was sie darf / sie tut es / Die Liebe ist in / jedem Falle scharf / und Freundin dunklen, roten / frischen Blutes (…). Aber auch wenn sie einmal zu fest zugebissen hat, scheint es für ihn noch Tröstliches zu geben (…) Doch unerhofft kommt sie wieder / Und streift mich mit ihrem Gefieder / wenn ich unglücklich bin

Die Liebe, die große Liebe, die unaussprechlich abgelutschte, abgedroschene, bis zum Überdruss besungene Liebe, wer (wen) verfolgt sie nicht? Auch Stelzhammer tut es, unermüdlich, unverbesserlich, unbelehrbar. Er sucht und singt und findet sie so vielleicht auf seine Weise. Auch noch auf dem Flohmarkt Auf dem Flohmarkt / kaufe ich eine ewig / blühende Rose / und ein unzerstörbares Herz aus / Porzellan / und Schneekristalle / und einen blauen Winterhimmel / und eine gut erhaltene / Hoffnung auf Frühling / und Liebe / eine Sonne / und einen Spiegel / mit dem unauslöschlichen / Bild von Dir.
Dichter haben bekanntlich kein Geld, nagen am Hungertuch. Dichten ist eine brotlose Kunst. Uiii Jeee – schon wieder ein Klischee! Nein, Tatsache. Tatsache aber auch, dass er sich am Rand wohlfühlen kann, oder überhaupt fühlen. Ist das in unserer hektischen, egoistischen, schnelllebigen traurig und einsam machenden Zeit nicht ein beinahe unbezahlbarer Luxus geworden. Der Einzige den man/frau sich um Himmels willen wirklich leisten sollte, weil er üerlebenswichtig ist. Hedonismus in vollen Zügen. Gratis. Weit wichtiger als jedes Penthouse und jedes Pöstchen. Am Rand der Schlachten / abseits des verzischenden Ruhmes / des vergänglichen Besitzes / im Hinterhof der geltenden Zeit / des zeitigen Geldes / blinzle ich in die / Sonne und / spür mein Herz schlagen / reich an Hunger / und Durst / wach und offen / im Lichthof zwischen / den Warenbergen.(…)

Aus Tiefsinnigem und Nachdenklichem soll offenbar nicht zuviel des Guten werden und deshalb wird zwischendrin immer wieder einmal auch etwas heiteres serviert, etwa wenn Kater Rudolf, zwecks Traumdeutung, zu einem Mäusepsychiater geht, der ihm einredet, dass seine Albträume in denen er von Mäusemeuten gefressen wird, völlig normal seien und dass Kater durchaus keine Mäuse fressen. Niemals. (…) Zum Mäusefreund manipuliert / ist Rudolf seither ganz verwirrt / Moral: Such Dir als Traumberater / doch lieber einen „Psychikater“

Ja, dieser Leseabend ist durchaus auch für kleinere Kinder gedacht (…) Wenn das Buch zur Schule geht / will es, dass die Kinder lesen / was darin geschrieben steht / was der Hahn vom Kirchturm kräht / wohin der Wind die Blätter wht / warum sich die Erde dreht / und reiten Hexen wirklich auf Besen

Das Leben bebt

Freilich konnten so bedeutende Fragen wie diese, ebenso wie viele andere, weit weniger wichtige auch, an diesem Abend nicht ausreichend beantwortet werden. Dafür wurden jede Menge neue gestellt. Brennende, aktuelle Fragen, darunter auch die, die aus den brennenden Banlieus von Paris erst kürzlich unauslöschlich emporschlugen und auf die wir, allen voran unsere „Regierungsfeuerwehren“ dringend Antworten finden sollten, wenn das friedliche Zusammenleben in und mit Europa weiterhin möglich sein soll. (…) Junge aus der Vorstadt was ist los mit dir? / Du führst dich auf und / sie hetzen dich wie ein wildes Tier / Zwischen allen falschen Fronten / Zwischen Vorhut und Spalier / bist du auch ein Stück von mir / jetzt und hier (…) Du sitzt in unseren Parks, unbeachtet / ohne Arbeit, voll entmachtet / Keiner streift an dich je an / Rüttelst an Europas Toren / sitzt im Zentrum schon verloren / Wünschst du wärest nie geboren / blinder Passagier, erfroren / kommst im Wohlstandsland du an / Kommst du nirgends an (…) Das Problem ist sichtbar geworden / an den Zäunen Europas, im Zentrum / Ausländerhäuser brannten wenig vorher / Schon vergessen? / Das Maß ist voll, maßvolles Teilen ist angesagt / Autos und Energie / Überfluss und Verschmutzung / Faschismus der Gleichgültigkeit / Kriege, Tsunamis, Hurricans, Seuchen / Aids, Erdbeben, Vogelpest / Faschismus der Gleichgültigkeit / Bebendes Leben / Versunken in unser Ego – das Leben bebt!
Das Leben bebt / die Welle frisst / der Wind zerstört / Der Mensch vergisst /
was er begräbt / bleibt unerhört
Die Luft verschmutzt / das Wasser schwindet / das Öl versiegt / Der Mensch erfindet / nur was ihm nutzt / und ihn besiegt.
Es ist jetzt Zeit / die Zeit wird knapp / sich zu besinnen / Kurs auf das Kap / Mitmenschlichkeit / Aufstand von Innen!


Mit diesem dringlichen Appell, der leider nicht so schnell als Headlines in einer Tageszeitung erscheinen wird, geschweige denn im ORF und nachstehendem „Mystischen Wunsch“ endete die Lesung Die reine Schale meines Herzens / neige ich dem Dreck der Straße / setze sie dir an die Lippen – trink, du Tier aus dieser Tränke / du gehetztes, namenloses, aus den Äsungen des Dunklen / in den Schein der Zeit getreten (…) Schreib mir nicht, du Unbekannte / mit dem Blut an deinen Fingern / Worte, die die Nacht diktierte / an die hoffnungslose Stirne / Trinke, doch ertrinke nicht.

Zwanzig Jahre, geballt in einer intensiven, „heissen“ Stunde. Dichter und Musiker wurden mit nachhaltigem Applaus belohnt, das Publikum mit dem Entlass in einen wunderschönen, kühlen Döblinger Juniabend, wo das eben Gehörte, für manche vielleicht Verstörende, ergänzt, gelobt und kritisiert, mit eigenen Kommentaren und angeregten Diskussionen versehen, bei Prosecco, Bier, Wein, Mineral und Trzniewski-Brötchen gebührend nachhallen und ausklingen konnte. Der Dichter war minutenlang in einer Welle von Signierungswütigen verschwunden und vermutlich ebenso wie Verleger Dr. Clauss und Gastgeberin und Veranstalterin Joy Antoni mit der gelungenen Veranstaltung zufrieden. In der allgemeinen Ausgelassenheit holten sich einige unermüdliche und unersättliche ZuhörerInnen noch ihren kleinen Nachschlag an Gedichten. Aus dieser Zugabe bleibe ein 1. Mai – Aufruf - den der SPÖ-Chef, laut Auskunft des Autors nur deshalb nicht am Rathausplatz hatte halten können, weil der „Ghostwriter“ bedauerlicherweise den Tag der Arbeit verschlafen hatte – der interessierten Nachwelt nicht vorenthalten. Wer weiss ob sonst die ganze leidige Geschichte nicht schon längst einen ganz anderen Verlauf genommen hätte.
Aufruf zum 1. Mai: Etwas weniger fressen / Etwas weniger besessen kaufen / Etwas mehr das Eigene vergessen / Nicht mit- selbstständig laufen!
Aufs Tabula Rasa nicht warten / Skandale selber aufdecken / Penthouse und Privilegiengarten / Öffnen, nicht ängstlich verstecken!
Supergagen verschenken / Breitarsch vom Machtsessel heben / Aufhören zu lenken – denken / Kampfgeist wiederbeleben!
Globalisierung hinterfragen / Gewerkschaftsarbeit machen / Widerstand wagen / Weltweit entfachen!
Wirtschaft demokratisieren / Gerechtigkeit schaffen / Dafür, ihr Affen / Lohnts zu demonstrieren.


Am Schluss war alles klar

Keine Angst, es blieb bei einer gut besuchten Lesung. Niemand demonstrierte. Die einzige Demonstration war die der allgemeinen guten Laune. Außerdem demonstrierten in allen Lokalen der Welt ab 21 Uhr auf Großleinwänden Fußballer ihre Fußballkunst-stücke. Und das wars auch schon, von wegen Demonstration. Wäre ja noch schöner. Es wurde Zeit zu gehen, mit der Zeit. Die Poesie hatte ihr Stündchen gehabt. Ihr Sternstündchen. Nun war sie wieder bereit zur Normalisierung, brav den Platz einzunehmen, der ihr zusteht. Aus der Traum von Poesie an der Macht. Ganz wie im richtigen Leben, wo die Lyrik ihr Stiefmütterchendasein in den hintersten Regalen der Unterhaltunggsliteratur – und Romankonsummaschinerie fristet, meist bleichwangig und mondsüchtig, ganz wie die Zivilgesellschaft und die Demokratie, etwas angestaubt und kaum vorhanden. Doch bisweilen tritt Arlequino auf die Straße, mit oder ohne Colombine, mit oder ohne Mandoline, mit oder ohne Gondel, aber immer mitten unter die Pierrots, mitten unter die Leute und singt und rüttelt und wiegelt auf zu einem Aufstand der Herzlichkeit, der Vernunft, der Liebe und der Schönheit, gegen die Windmühlen, für ein poetisches Leben eben. Wie schreibt Stelzhammer in der Ergänzung seines Lebenslaufes Straßenkomödiantisch und marktschreierisch: Bin geboren in Simmering / Wo mein Lebnslauf anfing / 68 wurd ich munter / Kam von der Welle niemals runter / Zwischendurch in Frankreich war ich / Schön wars, heiss und ziemlich haarig / Schrieb Musiktheaterstücke / Gedichte, Lieder und Pamphlete / Hatte alles außer Knete / Dann zurück zur Waldheimzeit / Machte ich in Wien mich breit / Gründete ein Stadtteilzentrum / Trieb mich zivilgesellschaftlich rum / Nicht, dass das schon alles wäre / Ich erfand auch Lichtermeere / Trat für freie Radios ein / Ließ das Dichten niemals sein / Seit 2000 Wendeschande / Bin ich bös aufs Vaterlande / Akzeptier nicht die Regierung / Lehne ab Normalisierung / Doch seit alle resignieren / Donnerstags nicht mehr marschieren / Wird auch mein Gemüte schlichte / Und ich schreib nur mehr Gedichte / Dieses ist mein Lebenslauf / Und nun lieber Leser kauf!

Aha, so ist das also. Von wegen. Keine Spur mehr von romantischer Träumerei, wie in dem Gedicht, das dem Band seinen Titel gab und wo es so blauäugig und harmlos heißt: Wenn Venedig in Simmering wär und der Mond und die Sterne wären ganz nah (…) und: (…) Ach, wenn Simmering einmal Venedig wäre / Alle Hoffnungslosigkeit wäre Tanz (…) Statt dessen: (…) Und jetzt lieber Leser kauf! Nicht nur politisch unkorrekt, weil die feminine Form dem Reimzwang geopfert wurde, nein, offene, scham-lose, beinharte Geschäftemacherei

Jetzt endlich war mir klar warum heute Abend „Venedig in Simmering“ in Döbling zu Gast war und es fiel mir wie Schuppen von den Augen und ich hörte auf einmal ein lautes und deutliches „Blop“. Natürlich, das war es – um reich zu werden! Bloß so

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